Venezianischer Zauber beim Menuhin-Festival-Konzert in Zweisimmen

Wenn Maurice Steger, der «kleine Prinz der Blockflöte», zum Konzert lädt, braucht er sich keine Publikumssorgen zu machen. Auch in Zweisimmen war am vergangenen Samstagabend die Kirche voll besetzt von einer erwartungsfrohen Zuhörerschaft, die vom Flötisten und dem ebenfalls hervorragenden Orchester «Il Pomo d’Oro» sofort in den Bann gezogen wurde.

Venezianischer Zauber beim Menuhin-Festival-Konzert in Zweisimmen

Das Ensemble Pomo d’Oro nach dem beglückenden Konzert.

Vor den ersten Tönen von G.A. Brescianellos (1690–1758) Sinfonia F-Dur hörte man erstes Donnergrollen, welches den Musikern ein heiteres Lächeln entlockte. Die Fröhlichkeit, der Schwung und die jugendliche Begeisterung prägten das Spiel des Orchesters «Il Pomo d’Oro» während des ganzen Abends und fügte sich bestens ein in die ausdrucksstarken Flötenkünste von Maurice Steger. Ebenso besonders erlebte man die Verbindung der musikalischen Naturschilderungen mit dem draussen vorüberziehenden Gewitter. Ob die vielen Filmkameras und Aufnahmegeräte in der Kirche wohl durch die äusseren Einflüsse nicht gestört wurden?

Barocke Begeisterung

Oft hört man Äusserungen, welche barocke Musik eher als «Schnee von gestern» abstempeln. Wer das Spiel des 2012 gegründeten Ensembles «Il Pomo d’Oro» miterlebte, wurde aber sicher eines Besseren belehrt. Das 7-köpfige Orchester musizierte dermassen präzis, differenziert von feinster Weichheit bis zu fast überbordendem Übermut und immer in lächelndem Blickkontakt untereinander und mit der hervorragenden Leaderin Zefira Valova, dass echt barocke Überraschungsmomente möglich wurden mit allerleisesten Tönen oder plötzlich ausbrechenden Stürmen. In P.B. Galuppis (1706–1758) «Concerto a quattro» und im Violinkonzert «Grosso Mogul» von A. Vivaldi (1678–1741) hatte das Ensemble Gelegenheit, die venezianische Musik des frühen 18. Jahrhunderts in Zweisimmen neu aufblühen zu lassen. Und es tat dies mit bewundernswerten Leistungen. Speziell hervorzuheben sind sicher die durch Zefira Valova phänomenal gestalteten solistischen Passagen in Vivaldis Violinkonzert mit der eindrücklichen Kadenz im Schlusssatz oder das unerhört einfühlsame, präzise, hochmusikalische Mitprägen aller Werke durch den Cellisten.

Ein Flöten-Zauberer

Und dann trat beschwingt Maurice Steger auf die Bühne und zog das Publikum vom ersten Ton an in seinen Bann. Wenn er seine Blockflöte ansetzte, brach sein Temperament sich Bahn. Sein Gesichtsausdruck widerspiegelte seine Gefühle, die er in musikalischer Form ausdrückte. Er stand da wie ein Zauberer, der seiner Flöte atemberaubende, fesselnde Töne entlockte. Man versteht nun, dass Steger seinem Instrument in unserer Zeit wieder zu seinem ursprünglichen Ruhm verholfen hat. Denn die Blockflöte war zu Vivaldis Zeit das beliebteste Instrument, und die Konzerte des venezianischen Meisters waren echte Hits. In vier sorgfältig ausgewählten Werken von Vivaldi spielte Maurice Steger nun seine Meisterschaft aus in Konzerten, die alle Geschichten von Naturerscheinungen erzählen, voll von prallen Farben, Humor, Ausgelassenheit, aber auch Melancholie. Sie tragen Namen wie «La pastorella» (die Schäferin), «La notte» (die Nacht) oder «Il gardellino» (der Distelfink/Stieglitz) und boten dem Künstler ein breites Feld, um seine reichen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten zu entfalten: Weiche, schmelzende Melodiebögen, witzige Staccati, virtuose Läufe in rasenden Tempi, echtes Vogelgezwitscher in höchsten Höhen, tänzerische Sprünge, barocke Verzierungen – und dies alles in höchster Präzision, mit einer stupenden Lippen-, Mund- und Atemtechnik und immer im Einklang mit dem grossartigen Begleitensemble.

Mehr als verständlich waren die riesigen Begeisterungsstürme des Publikums, welche von dieser barocken Pracht entlockt wurden. Mit einer «Pastorella» als Gutenachtgeschichte und Dank für die Blumen sollte ein Schlusspunkt gesetzt werden, doch erst nach einer enorm virtuosen zweiten Zugabe verliessen die Musiker die stehend applaudierende Zuhörermenge.

Venezianische Randbemerkungen

Südländisch war an diesem Abend sicher auch die Hitze, die vom Solisten etliche Schweisstropfen und Tenue-Wechsel erforderte. Und am Rande wurde «Venedig in Zweisimmen» sogar noch sichtbar: Die Krimi-Autorin Donna Leon, bekannt durch ihre Brunetti-Romane in der Lagunenstadt, war als Vivaldi-Fan im Konzert anwesend und zeigte sich in einem kurzen Pausengespräch begeistert von der Zweisimmer Kirche und der wunderbaren Simmentaler Bergwelt…

Klaus Burkhalter